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Memorandum Mensch & Computer 2000

Information, Interaktion, Kooperation

Memorandum zur Entwicklung eines zentralen Zukunftsthemas im deutschsprachigen Raum, 22. Februar 1999

1. Ausgangslage

Die Informatisierung aller Lebensbereiche hat ausgangs des 20. Jahrhunderts bereits viele Menschen zu Nutzern von Computertechnik gemacht – ob sichtbar am Arbeitsplatz, in Lernumgebungen oder integriert in Gegenstände des täglichen Lebens. Die Gebrauchstauglichkeit der neuen Technik wird zu einem zentralen Qualitätsmerkmal. Erfolgreiche Geräte und Systeme müssen gleichzeitig nützlich für die zu erledigenden Aufgaben, benutzbar im Sinne einer intuitiven Verständlichkeit und möglichst geringen Ablenkung von der Aufgabe und ansprechend im Sinne von Ästhetik und Spaß an der Nutzung gestaltet sein. Erst so können neue Benutzer gewonnen werden. Gebrauchstaugliche Software eröffnet dann auch neue Potentiale zur Reorganisation von menschlicher Arbeit, von Lernen und Freizeit. Die benutzergerechte Gestaltung interaktiver Software stellt damit nicht nur einen wichtigen Beitrag für eine menschengerechte Zukunft der Informationsgesellschaft dar, sie kann gleichzeitig Anbietern aus dem deutschsprachigen Raum auch einen Wettbewerbsvorteil bringen.  Es gibt viele Ansätze, zu einer verbesserten Gebrauchstauglichkeit beizutragen, die über das Anfang der 80er Jahre angemessene Konzept der PCs mit Schreibtisch-Metapher hinausgehen: Multimediale Info-Räume und -Welten (Interspaces), Agenten, allgegenwärtige Computer (ubiquitous computing), tragbare Computer in Alltagsgegenständen, Groupware, WWW, usw. Es werden Werkzeuge und Methoden zur Unterstützung der Gestaltung sowie zur Einbeziehung der Gebrauchstauglichkeit in die Software- und Organisationsentwicklung bereitgestellt.

Diese Aktivitäten zur benutzergerechten Gestaltung von interaktiven Systemen und zum sinnvollen Einsatz in Anwendungskontexten zeigen bereits gute Erfolge, sind aber weit verstreut –  sowohl über Fächer wie über Gliederungen der Gesellschaft für Informatik (GI) und anderer Fachgesellschaften und Institutionen hinweg. Der Diskurs zwischen einer interdisziplinär ausgerichteten Informatik, Nachbardisziplinen bis hin zu Förderungsinstitutionen wie der DFG findet bisher eher sporadisch statt. Die Bedeutung dieses Themas auch in Bezug auf die Förderung interdisziplinärer Vorhaben im Grundlagenbereich ist noch nicht ausreichend erkannt worden.

Die Integration des Gesichtspunktes Gebrauchstauglichkeit in die Ausbildung ist trotz Empfehlungen der GI (Maaß et al., 1993) bisher nur ansatzweise gelungen. Firmen beginnen langsam damit, Experten, Methoden, Werkzeuge für die benutzergerechte Gestaltung zu suchen und wundern sich, daß Kompetenz bzw. Kompetenzträger fehlen.

Deklarationen zu Benutzerrechten ("User’s Bill of Rights", vgl. Karat, 1998) sind zum Glück wegen der EU-Arbeitsplatzrichtlinien nicht mehr ganz so nötig wie vielleicht in den USA. Die Zersplitterung und teilweise Sprachlosigkeit zwischen den Akteuren sowie die mangelnde Wahrnehmung der Bedeutung des Themas Gebrauchstauglichkeit behindern jedoch innovative Lösungen, obwohl das Potential im deutschsprachigen Raum (z.B.. arbeits- und organisationswissenschaftliche Grundlagen; Telekommunikation, unternehmensweite Standardlösungen, Individualsoftware als Anwendungs- bereiche) groß ist.

2. Vision

Informatiksysteme werden sich Anfang des 21. Jahrhunderts weiter verbreiten. Einerseits werden sie zum Aufbau einer allgegenwärtigen Informationsinfrastruktur beitragen, von der das Internet eine erste Idee liefert (vgl. Stefik, 1996). Andererseits wird auf der Basis dieser Infrastruktur eine Vielfalt von interaktiven Systemen entstehen, die der aufgaben- spezifischen Informationssammlung, -auswertung und -verbreitung dienen (vgl. Shneiderman, 1998) und die Kooperation zwischen Menschen unterstützen. Die Anwendungsbereiche werden sich vom Arbeitsleben über das Lernen bis in alle Bereiche des täglichen Lebens ausbreiten. Zusätzlich zu den vertrauten Arbeitsplatzssystemen werden mobile Miniatursysteme (z.B. Organizer) ebenso wie großflächige Interaktionsmöglichkeiten verfügbar sein. Integrierte Computer in Info-Geräten oder Info-Landschaften werden vielfach nicht mehr als solche erkennbar sein (vgl. Weiser & Brown, 1997). Die Verfügbarkeit von Information und Informationsverarbeitung über Netze – unabhängig von dedizierten Endgeräten (ubiquitous computing) – erlaubt eine grundlegend neuartige, prozeßbegleitende Unterstützung von Tätigkeiten mit neuen Chancen und Gestaltungsaufgaben. Diese Systeme sind einer ständigen Evolution unterworfen; daher sind flexible, dynamisch anpaßbare Systeme notwendig: anpaßbar an sich verändernde Prozesse, aber auch an sich verändernde Aufgabenstellungen und Kontexte. Über das schon für graphische Benutzungsoberflächen genutzte Wissen von Software-Ergonomen und Graphik-Designern hinaus werden beispielsweise die Qualifikationen von Produktdesignern, Architekten und Organisationswissenschaftlern benötigt. Je nach Anwendung kommen weitere Disziplinen hinzu.

Eine ganzheitliche Vision für die zukünftige Entwicklung ist notwendig. Integrierte Gestaltungsansätze müssen neue Lösungen bereitstellen, Marktmechanismen werden die Selektion beeinflussen. Die Entwicklung interaktiver Systeme wird in den größeren Kontext einer nachhaltigen Entwicklung zu stellen sein, in der mit den knappen und wertvollen Ressourcen der Welt schonend umgegangen wird. Bezogen auf die Mensch-Computer-Interaktion und die Kooperation wird es darum gehen müssen, aus einer Analyse der jeweiligen Stärken und Schwächen zu Unterstützungssystemen zu kommen, die die Spielräume für die individuelle und gesellschaftliche Weiterentwicklung erhalten und erweitern.

Es gibt zunehmend renommierte Forscher im Bereich der Mensch-Computer- Interaktion, die vorschlagen, von einer technikzentrierten Weiterentwicklung zu einer aufgaben- und menschenzentrierten Entwicklung überzugehen, um die ständig wachsende Komplexität von Anwendungssystemen überhaupt in den Griff zu bekommen (vgl. Norman, 1991, 1998). Die Einbeziehung von Design-Qualifikationen (Winograd, 1996, 1997) sowie ein starker Kontextbezug der Gestaltung (Kyng & Mathiassen, 1997) werden für unabdingbar gehalten. Dabei wird die große Bedeutung einer sauberen, ingenieurmäßigen Realisierung nicht verkannt, aber Benutzer und Gebrauchstauglichkeit werden als Ausgangspunkt der Gestaltung gewählt.

Die zugehörigen Entwicklungsprozesse müssen zyklisch sein, Benutzer und Anwendungskontext intensiv einbeziehen und die Brauchbarkeit von Lösungsansätzen auf der Basis von Prototping überprüfen: Gebrauchs-tauglichkeit muß mindestens denselben Stellenwert bekommen wie die Qualität der technischen Realisierung! 

Dazu ist es notwendig, folgende Aktivitäten zu kombinieren und aufeinander abzustimmen (vgl. Henderson, 1998):

  • Analyse des Anwendungskontextes und der bisherigen Techniknutzung;
  • phantasievolle Entwürfe für Informationswelten, Info-Geräte (Appliances), …;
  • ingenieurmäßige Umsetzung;
  • kontextangemessene Einführung und Nutzung.

Der Einstiegspunkt in diese zyklisch vorkommenden, ineinander verzahnten Aktivitäten kann durchaus unterschiedlich sein.

Zusätzlich wird eine Bewertung hinsichtlich gesellschaftlicher Zielvorstellungen (Nachhaltigkeit, globale Wettbewerbsfähigkeit, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit etc.) als Diskussion im gesellschaftlichen Rahmen unausweichlich sein.

Keine Einzelperson wird in der Lage sein, eine Produkt- oder Anwendungsentwicklung allein zu machen; keine Einzeldisziplin ist in der Lage, dieses Aufgabenfeld allein zu bewältigen.

Im Kleinen werden Spezialistenteams einzusetzen sein, die in der Lage sind, miteinander zu kooperieren. Im Großen wird es auf die Etablierung einer transdisziplinären Gemeinschaft, eines Netzwerkes, ankommen, in dem ein fächerübergreifender Austausch stattfindet, in dem Perspektiven gekreuzt werden können und gemeinsame Lernprozesse stattfinden. Über die traditionell in der Software-Ergonomie aktiven Disziplinen Informatik, Psychologie und Arbeitswissenschaft hinaus sind traditionelle Ergonomie, Graphik- und Produktdesign, Soziologie, Wirtschafts- und Organisationswissenschaften sowie weitere Disziplinen zur Mitwirkung aufgefordert. Es wird dabei keinen "one best way" geben; es wird notwendig sein, jeder beteiligten Disziplin mit Respekt vor ihren Stärken zu begegnen. Es wird Kooperation und Wettbewerb um gute Lösungen geben. Vor allem aber bedarf es eines passenden Forums, um den intensiven Austausch zu unterstützen!

Die Special Interest Group "Computer-Human Interaction" (SIG CHI) der ACM hat teilweise dieses Funktion im englischsprachigen Raum. Auf internationaler Ebene ist auch das Technical Committee TC 13 "Human-Computer Interaction" der International Federation for Information Processing (IFIP) bereits seit 10 Jahren erfolgreich aktiv. Im deutschsprachigen Raum fehlt ein solches Forum zu "Mensch & Computer: Information, Interaktion und Kooperation" weitgehend, welches am Beginn des neuen Jahrtausends in der Lage ist, die Traditionen des Themas aufzugreifen, die Kräf-te zu bündeln und der Thematik als wichtigem Zukunftsthema zum Durchbruch zu verhelfen.

3. Perspektiven

Der Fachausschuß 2.3 "Ergonomie in der Informatik" der GI und seine drei Fachgruppen (Software-Ergonomie, Werkzeuge für die Schnittstellengestaltung, Benutzermodellierung) haben zusammen mit interessierten Mitgliedern anderer Fachgruppen die Initiative ergriffen, um das wichtige Querschnittsthema "Mensch & Computer" mit allen interessierten Personen und Organisationen gemeinsam neu anzugehen. Der Fachausschuß ist bereit, die Reihe der Software-Ergonomie-Tagungen (seit 1983 bisher 9 Tagungen im zweijährigen Rhythmus) nach der "Software-Ergonomie ’99 – Design von Informationswelten" auslaufenzulassen und seine Aktivitäten in ein neues Gemeinschaftsunternehmen einzubringen. Das Thema der aktuelle Tagung weist bereits in eine neue Richtung.

Eine Task-Force aus Vertretern der o.g. GI-Gliederung und weiteren Vertretern benachbarter Gruppen hat am 15.12.1998 in Bonn erstmals getagt, um eine gemeinsame Strategie zu entwerfen. Dieses Memorandum ist ein erstes Ergebnis. Als gemeinsames Thema wurde die Bezeichnung 

Mensch & Computer: Information, Interaktion, Kooperation

erarbeitet. Als erste gemeinsame große Tagung unter diesem neuen Dach soll die

Mensch & Computer 2001

in Bonn stattfinden.

Für die Entwicklung des Themas wird folgender Weg vorgeschlagen.

  1. Veröffentlichung des Memorandums 
  2. Einladung an interessierte Personen und Institutionen 
  3. Einladung zur "Mensch & Computer 2001 (MC 2001)" in Bonn: "Das Gründungs-Event für die neue Community". 
  4. Formulierung einer längerfristige Plattform, die für viele einen Gewinn verspricht
  5. Etablierung eines Trägerkreises 
  6. Einfluß auf Ausbildungs-, Forschungs- und Förderungspolitik nehmen 
  7. Angemessene Verankerung in den Fachgesellschaften und ihren Gliederungen 
  8. Angebot von regelmäßigen interdisziplinären Foren, Workshops, Kursen etc.

4. Quellen

Henderson, A. (1998). A Conversation with Austin Henderson. Interviewed by Kate Ehrlich. interactions, vol. v.6, 36-47

Karat, C.-M. (1998). Guaranteeing Rights for the User. Communications of the ACM 41, 12, 29-31

Kyng, M., Mathiassen, L. (eds.) (1997). Computers and Design in Context. The MIT Press, Cambridge, MA

Maaß, S., Ackermann, D., Dzida, W., Gorny, P., Oberquelle, H., Rödiger, K.-H., Rupietta, W., Streitz, N. (1993). Software-Ergonomie-Ausbildung in Informatik-Studiengängen bundesdeutscher Universitäten. Informatik-Spektrum 16,1, 25-38

Norman, D. (1991). Collaborative Computing: Collaboration First, Computing Second. Communications of the ACM 34, 12, 88-90>

Norman, D. (1998). The Invisible Computer: Why Good Products Can Fail, the Personal Computer Is So Complex, and Information Appliances Are the Solution. The MIT Press, Cambridge, MA

Shneiderman, B. (1998). Codex, memex, genex: The pursuit of transformational technologies. Draft. To appear in: International Journal of Human-Computer Interaction (= Langfassung der CHI 98 Keynote Address)

Stefik, M. (Ed.) (1996). Internet Dreams. Archetypes, Myths, and Metaphors. The MIT Press, Cambridge, London

Weiser, M., Brown, J.S. (1997). The Coming Age of Calm Technology. In: Denning, P.J., Metcalfe, R.M. (eds.). Beyond Calculation. The Next Fifty Years of Computing. Copernicus/ Springer, New York, 75-85

Winograd, T., with Bennet, J., De Young, L., and Hartfield, B. (eds.) (1996). Bringing Design to Software. ACM Press, New York / Addison-Wesley, Reading, MA

Winograd, T. (1997). The Design of Interaction. In: Denning, P.J., Metcalfe, R.M. (eds.). Beyond Calculation. The Next Fifty Years of Computing. Copernicus/Springer, New York, 149-161

5. Aufruf zur Mitarbeit

An der Ausarbeitung dieses Memorandums haben mitgewirkt (in alphabetischer Reihenfolge):

U. Arend (Walldorf), E. Eberleh (Walldorf), P. Fach (Stuttgart), U. Frank (Koblenz), P. Gorny (Oldenburg), F. Hampe (Koblenz), T. Herrmann (Dortmund), J. Krause (Bonn), K. Möslein (München), H. Oberquelle (Hamburg), R. Oppermann (St. Augustin), M. Rauterberg (Enschede, Holland), J. Schlichter (München), N. Streitz (Darmstadt), C. Thomas (St. Augustin), V. Wulf (Bonn), J. Ziegler (Stuttgart).

Alle Personen und Institutionen, die bereit sind, an dem Zukunftsthema

"Mensch & Computer: Information, Interaktion, Kooperation"

<in dem oben skizzierten Sinne mitzuarbeiten, werden gebeten, ihr Interesse und ihre Anregungen an den Koordinator der Task-Force zu schicken:

Prof. Dr. Horst Oberquelle
Universität Hamburg / Fachbereich Informatik
Arbeitsbereich Angewandte und Sozialorientierte Informatik (ASI)
Vogt-Kölln-Str. 30
D-22527 Hamburg
Telefon 040 / 428 83-2429
Telefax 040 / 428 83-2311
E-Mail: oberquelle@informatik.uni-hamburg.de

6. Unterstützer

Dieses Memorandum wird bisher (Stand: 21.3.2000) unterstützt von

  • Gesellschaft für Informatik (GI):
    • FG 2.3.1 "Software-Ergonomie"
    • FG 2.3.2 "Entwicklungswerkzeuge für Benutzungsschnittstellen"
    • FG 1.1.4 / 2.3.3 "Adaptivität und Benutzermodellierung in Interaktiven Softwaresystemen"
    • FA 6.2 "Verwaltungsinformatik"
  • Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs)
  • Deutscher Multimedia Verband (dmmv)
  • Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA)
  • Hochschulverband Informationswissenschaft (HI)