Zum Hauptinhalt springen

Der Mensch im Mittelpunkt der Interaktion in einer digitalisierten Welt

Die Digitalisierung der Gesellschaft

Digitale Systeme durchziehen nicht erst seit kurzem unseren Alltag. Die ganz frühen Systeme waren zunächst oft von Expertinnen und Experten für spezielle Anwendungen entwickelt, um damit zum Mond zu fliegen, international Banken zu vernetzen. Nach und nach sind digitale Systeme Teil unseres beruflichen Alltages geworden, digitale Dokumente für die Geschäftskorrespondenz, das Warenmanagementsystem eines Logistikers, das Kassensystem für einen Einzelhändler, das Flugbuchungssystem für internationale Airlines. Mit den enormen Entwicklungen des Internet und dem World Wide Web, der Verfügbarkeit von drahtloser Kommunikation und der Miniaturisierung sind wir in das digitale Zeitalter eingetreten, in eine Art digitalen Goldrausch. Alles ist möglich, alles ist vernetzt, alles ist immer erreichbar.  In den vergangenen 20 Jahren sind digitale Systeme überall in unser Leben eingezogen, wenn wir kommunizieren, wenn wir einkaufen, wenn wir reisen, wenn wir arbeiten, wenn wir lernen, und auch wenn wir Sport treiben. Also überall.

Allen diesen Systemen ist es zu eigen, dass Menschen diese über eine Benutzungsschnittstelle bedienen, ob mit Tastenklick oder mit Fingerberührung, ob mit Sprache oder einer Geste. Aber die haben es nach wie vor ganz schön in sich. Dies beobachtet GI Fellow Peter Mertens, dass Benutzungsschnittstellen von IT in der Praxis immer wieder am Menschen vorbei entwickelt werden.

Warum sind wir noch nicht da?

Gehen wir dazu noch einmal ein paar Jahrzehnte zurück. Menschen entwickeln Software und digitale Systeme für Menschen. Doch die Sicht der Entwickler*innen auf die Nutzenden war nicht immer auf Augenhöhe. Lange vertrat man die Ansicht, dass der Kern der digitalen Systeme die Informatik, die Programmierung, die Funktion sind. Als ein leistungsfähiges digitales Warenhaus oder effizientes Kassensystem. Die Frage der Nutzung wurde in der Entwicklung nach hinten geschoben. Die Nutzung hatte praktischen Kriterien zu folgen; Fragen der Nützlichkeit oder der Ergonomie oder gar der Auswirkungen schlechter Nutzungsschnittstellen auf die Nutzenden standen nicht im Zentrum. Nutzungsschnittstellen das war das „hübsche“ „bunte“, mit dem man sich erst später in der Entwicklung beschäftigte, dass man an Interface-Design-Webagenturen übergeben konnte.

Aus dieser Zeit stammt auch der unsägliche Begriff, man müsse die Systeme für den „Dümmsten Anzunehmenden User“ entwickeln, den DAU.  Die Geisteshaltung, die sich dahinter verbirgt, ist in vielerlei Hinsicht kritisch zu betrachten. Es kommt zum Ausdruck, dass die Entwicklerinnen und Entwickler, die Informatikerinnen und die Ingenieure die letztendlich klügeren sind und wissen was Nutzende benötigen, und Nutzende schon gar nicht wissen was sie benötigen. Henry Ford wird oft damit zitiert: “If I had asked people what they wanted, they would have said faster horses.” Das Zitat wird dafür benutzt, um sich selbst zu bestätigen, dass Menschen neue Technologien gar nicht gestalten können, weil ihnen die Vision dafür fehlt. Wenn man die Menschen auf der Straße fragt, woher sollen Sie auch wissen, wozu die Wissenschaft oder die Forschung in der Lage ist. Was sie aber sehr wohl ausdrücken können und was in diesem Zitat ja auch zum Ausdruck gebracht wird, ist Folgendes: Sie wollen ein schnelleres Pferd und das ist, was ein Auto in der Tat ist. Der Begriff des „dümmsten Nutzers“ wirft einen weitere problematischen Punkt auf: wenn man das System nicht oder nicht richtig benutzen kann, dann ist man vermeintlich dumm. Kluge Entwickler haben es doch gut entwickelt, warum sollte es denn nicht benutzbar sein? Darüber hinaus könnte man noch annehmen, dass es vielleicht gerade ein Zeichen von Klugheit ist, ein System benutzen zu können und dass „dumme“ Menschen das eben einfach nicht können. Es geht hier im Kern um das Selbstverständnis der Informatik und die Notwendigkeit, die eigene Reichweite von Ideen, die im Labor oder am Schreibtisch entstanden sind, kritisch zu prüfen und mit der realen Praxis von Menschen im Alltag, auf der Arbeit, beim Reisen etc. in eine bessere Passung zu bringen. Dies kann nur mit dem Einbezug von Nutzenden und der Forschung in realen Praxiskontexten gut gelingen.

Impulse aus unserer Forschung

Das Thema der Einbeziehung von (End-)Benutzenden in die Softwareentwicklung lässt sich in Deutschland auf Arbeiten von Christiane Floyd zurückverfolgen. Prof. Christiane Floyd zählte zu den ersten Wissenschaftlerinnen in Deutschland, die darauf aufmerksam gemacht hat, dass Digitalisierung und Informatik darin den Menschen im Blick behalten müssen. Christiane Floyd war bereits 1978 zur Professorin für Informatik (Software-Engineering) an der TU Berlin berufen worden und hat in Berlin und später in Hamburg unter anderem am STEPS-Prozessmodell gearbeitet, das die Softwareentwicklung als eine evolutionäre Aktivität versteht, die den Benutzenden in den Entwurfsprozess einbezieht. Schon früh wurde also von der Wissenschaft darauf hingewiesen, wie die Entwicklung erfolgen sollte - und auch konkrete Lösungen vorgestellt. Auf Floyd folgten weltweit viele andere Ansätze und Aufrufe zu Partizipation - teilweise verbunden mit guten und praxiserprobten Lösungsbausteinen.

Floyds Arbeiten sind eng mit Ansätzen der Skandinavischen Schule des Participatory Design verbunden. Die skandinavische Schule der beteiligungsorientierten Gestaltung richtet ein besonderes Augenmerk auch auf die Entwicklung sozio-digitaler Umgebungen, die alle betroffenen Personengruppen inkludieren - also besonders auch marginalisierte Nutzendengruppen als Adressaten von Technikentwicklung. 

Bedeutung der Benutzerzentrierung erkennen

Es gilt ein Gewahrsein zu schaffen, dass man mit den Nutzenden und ihren Bedürfnissen anfangen muss - diese Themen von Anfang an in den Mittelpunkt stellen muss. Misserfolge oder Probleme, wie sie Mertens anspricht, führen zwar zu einem “Erinnern” - beim nächsten Projekt wird aber wieder an den Benutzenden vorbei gearbeitet.  Denn Nutzenden- und Praxisorientierung wird häufig als lästig empfunden - als zu hoher Aufwand im Entwicklungsprozess. Das Bild, dass die Technologie von Expert:innen entwickelt und dann bei den Nutzenden “abgegeben” wird, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert. Die Nutzenden spielen zunehmend  eine zentrale Rolle in der Entwicklung. Es ist zahlreich dokumentiert, sei es für Großprojekte oder kleinere IT-Produkte - dass aufgrund mangelnder Einbeziehung von Nutzenden und zu wenig Kenntnis über die Praxis, in der die zukünftige Technologie eingesetzt werden soll, Projekte immer wieder scheitern und kosten -und zeitmäßig aus dem Ruder laufen. Es muss und darf keine Herausforderung sein, digitale interaktive Systeme zu verwenden, sondern muss für die jeweilige Aufgabe leicht von der Hand gehen. Dazu haben das Fachgebiet Mensch Technik Interaktion und die Entwicklung von Communities wie der Usability Professionals enorm beigetragen.

Impulse aus der Forschung

Forschung und Praxis haben bereits seit Jahrzehnten wichtige Regelwerke entwickelt, wie sie auch teilweise in der Praxis etabliert sind, z.B. Vorgehensweisen zur Prüfung der Gebrauchstauglichkeit (Usability) und des positiven Benutzungserlebens (User Experience). Diese Vorgehensweisen sind nicht zuletzt in inter-/nationalen Normen verankert, z.B. ISO 9241-210:2019 (Ergonomie der Mensch-System-Interaktion - Teil 210: Menschzentrierte Gestaltung interaktiver Systeme (ISO 9241-210:2019); Deutsche Fassung EN ISO 9241-210:2019)). Die Anwendung der ISO-Normen zur Gestaltung interaktiver Systeme kann heutzutage als Standardverfahren angesehen werden. Es gibt auch spezielle Prüfverfahren für sicherheitskritische Systeme, z.B. in der Medizin oder für die Flugsicherung. Mit den Usability und User Experience Engineers hat sich in der Praxis ein Berufsbild professionalisiert und ist mittlerweile fest etabliert.

In dieser Linie steht heute der Ansatz der partizipativen und sozialverantwortlichen Technikentwicklung, der besonders auch die interdisziplinäre und intersektorale Kooperation als wesentliches Element erfolgreicher IT-Produktgestaltung ansieht. Besonders für den Bereich der IT-Gestaltung für die alternde Gesellschaft kann auf vielgestaltige interdisziplinäre Arbeiten und Ansätze hingewiesen werden, wie u.a. der Achte Altersbericht der Bundesregierung zum Thema “Ältere Menschen und Digitalisierung”, in dessen  Expertengremium Vertreter:innen aus dem Bereich MCI neben Forschenden aus der Alternswissenschaft und Pflegewissenschaft beteiligt waren (achter-altersbericht.de/).

Sowohl auf politischer Ebene als auch mittlerweile in vielen Forschungsgruppen im Umfeld der MCI wird der Ansatz der Nutzendenorientierung und Partizipation als wesentliches Element einer gelingenden Gestaltung von leicht nutzbaren und sinnstiftenden IT-Produkten für alle Nutzendengruppen angesehen. Einerseits steht dabei eine gute Gebrauchstauglichkeit der Produkte selbst im Fokus, aber andererseits auch die Nutzungs- und Aneignungsprozesse. So arbeiten viele Forschungsgruppen mit weiteren Organisationen und Akteursgruppen zusammen, die sich zum Ziel setzen, die digitale Welt für ältere und mit Digitaltechnik nicht vertraute Personengruppen einsetzen und bspw. lokale Lern- und Erfahrungsräume für ältere Menschen in städtischen und ländlichen Regionen aufbauen.

Die MCI-Forschung umfasst ein entsprechend breites Spektrum von technologischer Innovationsforschung bis zu sozio-technischen Ansätzen, die langfristige, praxisorientierte Projekte mit lokalen Organisationen und Unternehmen verfolgen.

Bildung und Lehre

Neben Wissenschaft und Praxis hat auch die Lehre das Thema seit langem aufgegriffen mit inzwischen vielfältigen Bachelor-, Master- und Weiterbildungsprogrammen rund um Mensch-Computer-Interaktion.

Als wichtigste Eckpunkte dazu:

  • Forschung: in Deutschland wird an über 150 Professuren und Lehrstühlen in den Bereichen Human Computer Interaction, Medien- und Sozio-Informatik geforscht
  • Ausbildung: In Deutschland entstehen 150 und mehr Promotionen jährlich im Umfeld der MCI
  • Es werden zunehmend weitere Studiengänge im Umfeld der angewandten Technikentwicklung über die Informatik hinaus aufgebaut
  • Der Bachelorstudiengang Medieninformatik wird als GI-Empfehlung gelistet
  • Der MCI-Fachbereich organisiert im deutschsprachigen Raum die Tagung “Mensch und Computer”, die jährlich bis zu über 700 Teilnehmende versammelt. Diese wird gemeinsam mit dem German Chapter der Usability Professionals Association ausgerichtet und stellt damit eine wichtige Plattform für den Austausch zwischen Forschung und Unternehmen dar.
  • Der Fachbereich MCI ist in wichtigen nationalen und Internationalen Fachgesellschaften vertreten und bildet das German Chapter der SIGCHI.

Abschließend kann konstatiert werden, dass die Zugänge zu digitalen Angeboten durchaus noch sehr verbesserungsbedürftig sind. Dies liegt u.E. allerdings weniger daran, dass Methoden, Konzepte oder Regelwerke fehlen. Es fehlt mehr daran, dass die Entwicklungsprozesse zu wenig an der realen Alltags- oder Arbeitspraxis von Menschen ausgerichtet werden. Praxis- und nutzendenorientierte Forschung muss noch viel stärker in den Fokus gestellt werden. Dazu benötigt man ein besseres Verständnis von partizipativen und interdisziplinären Vorgehensweisen und es braucht mehr Raum und Zeit für Verständigungsprozesse. Es braucht mehr Verständnis dafür, wie Regelwerke mit geeigneten prozeduralen Vorgehensweisen kombiniert werden können, um letztlich IT-Produkte zu gestalten, die die Nutzenden positiv in ihrer Alltags- und Arbeitspraxis unterstützen. Insbesondere gilt dies für ältere Menschen, die prinzipiell mittels Digitaltechnologie viele neuartige Optionen erhalten, auch im höheren Alter selbständig und selbstbestimmt zu leben und an sozialen und gesellschaftlichen Prozessen teilzuhaben.

Der Fachbereich MCI in der Gesellschaft für Informatik
https://www.mensch-computer-interaktion.de/

 

Wir haben als Fachbereich auch eine Broschüre herausgegeben, in der näher auf einige der Probleme und aktuellen Arbeiten in der Wissenschaft eingegangen wird: Die Broschüre "Erst Nutzbarkeit schafft Nutzen" führt kurz in die Forschungs- und Arbeitsfelder des Fachbereichs Mensch-Computer-Interaktion ein. Sie finden die Broschüre unter https://fb-mci.gi.de/fileadmin/FB/MCI/dokumente/MCI_Broschuere_2019-11.pdf

Hintergrund:

Der im Beitrag referenzierte Beitrag von Peter Mertens ist im GI-Radar 340 vom 28.07.2023 erschienen (Thema im Fokus: Gute Benutzungsschnittstellen): https://gi-radar.de/340-gute-benutzungsschnittstellen/

und ausserdem als Blog-Post auf der Website der GI veröffentlicht worden:

https://gi.de/themen/beitrag/benutzungsschnittstellen-es-braucht-ein-regelwerk

 

20.10.2023
Autor*innen: FB MCI, AK Strategie und Kommunikation https://fb-mci.gi.de/fachbereich/arbeitskreise
(Claudia Müller, Michael Koch, Susanne Boll, Volker Wulf, Albrecht Schmidt)

Siehe auch unter https://gi.de/themen/beitrag/menschen-mitdenken-human-computer-interaction